Einer dieser kurzen, fast tropischen Regengüsse ist niedergegangen und hat den unsymmetrischen mittelalterlichen Platz vor der mächtigen romanischen Kathedrale von Massa Marittima blankgewaschen. Die gotischen Palazzi, das gleichfalls gotische Rathaus, der mächtige Treppenaufgang zum romanischen Dom sehen wie eine Theaterkulisse aus. Einen Augenblick vergisst man, dass man sich im 20. Jahrhundert befindet. Eine breite Straße führt im Bogen von einem der wichtigsten Stadttore, dem Salpetertor, hinauf zum Dom, fächert sich auf in viele kleine Gassen, die sich katzbucklig zwischen den Häusern verlieren.
Die kleinen Lädchen in den Gewölben unter der Altstadt haben Anfang Juli aufgemacht. Sie bieten Schmuckstücke an aus Pyrit und anderen Halbedelsteinen, wie man sie noch immer in der Gegend findet, wenngleich die Stadt heute kaum noch Bedeutung im Bergbau hat. Im Jahr 1225 aber wurde hier der erste Bergbaukodex Europas erlassen. In den nahen Colline Metalliferi wurden beträchtliche Mengen silberhaltigen Bleiglanzes abgebaut, der sehr begehrt war; heute sind es gerade noch etwa tausend Kilo im Jahr.
Wildschweinschinken hängen von rauchgeschwärzten Decken, große Käseräder liegen auf den groben Holztischen neben den Flaschen mit dem herben Wein, der außerhalb der Stadtmauer gedeiht. In einem anderen Geschäft wird ein neuer Schrank künstlich älter gemacht. Das heißt: aus altem Holz wird eine neue Konstruktion zusammengebaut und gebeizt. Ein paar Maler zeigen ihre Werke, eine Boutique die neue Sommermode - es ist hübsch, hier herumzustöbern.
Man kann in den Souvenirgeschäften sogar eine Miniaturarmbrust erwerben, die wirklich funktioniert. Die Armbrust hat in Massa Marittima große Bedeutung. Man brauchte sie, um sich im 16. Jahrhundert gegen die Herrschaftsgelüste der Stadt Florenz zu verteidigen. Zur Erinnerung daran wird jedes Jahr einmal im Mai und einmal im August das "Balestra dei Girifalco" gefeiert. Da kommen Fahnenschwinger aus dem Stadtdrittel Borgo und Schildträger aus dem Stadtdrittel der Altstadt in Kostümen der damaligen Zeit. Sie treffen sich zu einem großen bunten Fest, in dem das Armbrustschießen in der gleichen Form wie im 14. Jahrhundert im Blickpunkt steht. Der Platz vor dem Dom bildet dafür den schönsten Rahmen, den man sich denken kann.
Die Sonne ist wiedergekommen. Schon sitzen ein paar junge Leute auf den Stufen zum Dom. Ob sie die unwahrscheinlich schönen Reliefs aus vorromanischer Zeit gesehen haben. die in seinem Innern eingemauert sind, oder den prächtigen Taufbrunnen aus einem einzigen Travertinblock, den Girodo da Como 1263 geschaffen hat? Die jungen Leute werden später einen Café spezial drüben an der Ecke trinken (einen Espresso mit Mandarinenpunsch), sobald die beiden Wirtsbrüder die Stühle trockengewischt haben. Und dann werden sie einfach dasitzen und reden und den andern Leuten zuschauen.
Von ihnen habe ich endlich auch erfahren, wie der Wind heißt, der mir so zu schaffen macht. Er kommt von hier. Er heißt "Massetano".
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